Sonntag, 30. September 2012

Erkan war mindestens ebenbürtig

Diskriminiert unser Bildungssystem? Werden Kinder aus sozial schwächeren Familien strukturell benachteiligt? Ja, meint die Soziologin Jutta Allmendinger. Sie musste mit ansehen, wie ihr gut situiertes Patenkind gefördert wurde, während Klassenkameraden der Aufstieg verwehrt blieb. In einem Spiegel-Interview fordert Sie, Kinder nicht so früh auszusortieren.
Von Jan Friedmann, Der Spiegel  

SPIEGEL: Als Forscherin befassen Sie sich mit dem gesamten Bildungssystem, mit Politik und Strukturen. In Ihrem neuen Buch behandeln Sie die großen Fragen anhand der Entwicklung von vier jungen Menschen, Ihrem Patenkind und drei seiner Freunde. Warum? 

Allmendinger: Die vier sind zusammen in den Kindergarten gegangen und inzwischen volljährig. Damals waren sie die engsten Kameraden, inzwischen haben sie sich nicht mehr viel zu sagen. Mich bedrückt, wie weit sich die Lebenswege und die Schulabschlüsse auseinanderentwickelt haben. 

Soziologin Allmendinger: "System der Abschottung"

SPIEGEL: Ist das nicht normal? 

Allmendinger: Ich habe die Bildungskarrieren dieser jungen Menschen über Jahre hinweg begleitet, wir haben viel gemeinsam unternommen. Deshalb glaube ich, dass ich ihre Potentiale gut einschätzen kann. Im Rückblick muss ich feststellen, dass sich nur einer der vier gemäß seinen Fähigkeiten entwickeln durfte. Das empfinde ich als zutiefst ungerecht. 


SPIEGEL: Ihr Patenkind - Sie nennen ihn Alex - kommt aus einer bildungsbürgerlichen Familie und erhält ein Stipendium einer internationalen Schule in England. Warum hat er mehr Erfolg als die anderen drei Kinder? 

Allmendinger: Alex bekam immer Zuspruch, während das deutsche Bildungssystem es den anderen schwermachte. Zum Beispiel am Ende der Grundschule. Ich erinnere mich gut an den Tag, an dem sein Freund Erkan freudestrahlend zu mir kam und erzählte, dass er eine Realschulempfehlung bekommen habe. Auch Erkans Eltern waren stolz. Sie wussten nicht, dass eine noch höhere Schule in Frage gekommen wäre. Eine solche Realschulempfehlung hätten Alex und seine Eltern hingegen als Degradierung empfunden. 

SPIEGEL: Wo liegt die Ungerechtigkeit? 

Allmendinger: Erkan war mindestens ebenbürtig, was Intellekt und Neugierde angeht. Doch warum durfte er anders als Alex mit teils mäßigen Noten nicht aufs Gymnasium? Weil mit unterschiedlichem Maß gemessen wird. Erkan hätte bessere Leistungen als andere Kinder erbringen müssen, um eine Gymnasialempfehlung zu erhalten. 

SPIEGEL: Wer ist schuld? 

Allmendinger: Es kommen viele Faktoren zusammen. Ein Schulsystem, das frühzeitig Selektion erzwingt, Schulen und Lehrer, die sich dieser Logik unterordnen, und eine Gesellschaft, die dieses System entschieden verteidigt. Die Eltern von Erkan haben ihre Kinder mit Liebe erzogen. Doch ihnen war nicht klar, wie das deutsche Schulsystem funktioniert. Die Schule hätte aktiv auf sie zugehen und die Möglichkeiten aufzeigen müssen. Anzunehmen, dass Eltern unabhängig vom sozialen Hintergrund gleichermaßen an die Türen klopfen und für ihre Interessen kämpfen, ist vermessen. 

SPIEGEL: Wie sollen Schulen das leisten? 

Allmendinger: Bei Alex sagten die Lehrer ja auch, auf dem Gymnasium könne nichts schiefgehen, mit solchen Eltern. Dabei hatte er bisweilen miserable Noten. Erkan bekam nicht einmal seine Chance zum Aufstieg, als er auf der Realschule sehr erfolgreich war. Die Lehrer dort wollten ihn auch als Vorbild für die Schwächeren nicht verlieren. 

SPIEGEL: Sie schreiben in Ihrem neuen Buch auch über Jenny, aufgewachsen mit einer alleinerziehenden Mutter in einer Sozialwohnung, und Laura, ein leicht lernbehindertes Kind. Wie verliefen die Werdegänge der beiden Mädchen? 

Allmendinger: Viele Mädchen sind Selbstläufer im Schulsystem, nicht so die beiden. Jennys Mutter war sehr mit sich selbst beschäftigt, sie kam nicht mehr aus ihrem Milieu, ihrer Arbeitslosigkeit heraus. Ihre Perspektiv- und Hilflosigkeit übertrugen sich auf die Tochter. Die schaffte einen Hauptschulabschluss, traut sich aber heute kaum noch aus dem Hochhausviertel heraus. Das hätte nicht passieren müssen, wenn Jugendamt und Schule sie kontinuierlich begleitet hätten. 

SPIEGEL: Und Laura? 

Allmendinger: Sie besuchte erst eine Sonderschule und hatte dann das Glück, einen Integrationsplatz in einer Berufsschule zu erhalten. Es gefällt ihr dort. Vielleicht kann sie später sogar eine Ausbildung beginnen. Ihre Eltern haben aber viel Frust erfahren: Sie nahmen Laura von der Regelschule, weil sie sich dort trotz eines integrativen Konzepts allein gelassen fühlten. 

SPIEGEL: Kann ein Bildungssystem wirklich Kinder mit solch unterschiedlichen Voraussetzungen gerecht werden? 

Allmendinger: Das Bildungssystem, wie es derzeit strukturiert ist, eröffnet kaum Chancen, unterschiedliche Startbedingungen auszugleichen, es zementiert soziale Ungleichheit. Statt die Kinder schon nach der Grundschule zu sortieren, wäre es besser, sie länger gemeinsam lernen zu lassen und ihnen zu ermöglichen, sich gegenseitig zu stützen. 

SPIEGEL: Genau das haben die Hamburger Bürger vor zwei Jahren in einem Volksentscheid abgelehnt, als sie sich gegen die sechsjährige Grundschule aussprachen. 

Allmendinger: Die Furcht in Deutschland ist ja immer: Die Schlechten ziehen die Guten nach unten. Die Länder, die in internationalen Vergleichstests erfolgreich waren - Finnland, Neuseeland, Kanada -, zeigen uns aber, dass das nicht stimmen muss. Es geht darum, die Schwächeren mitzuziehen. Das klappt in guten Kindergärten. Ich sehe nicht, warum wir dieses Prinzip nicht viel weiter treiben könnten. 

SPIEGEL: Eine neue Debatte um die Einheitsschule ist wohl das Letzte, was sich die Eltern in Deutschland wünschen. 

Allmendinger: Es geht mir nicht um die Einheitsschule. Es wäre sinnvoll, bei Schülern erst mit 16 die Leistung breit zu sondieren und für einige eine gymnasiale Oberstufe anzubieten. Bis dahin sollten wir die Kinder zusammen lernen lassen. 

SPIEGEL: Das wird vielen Eltern nicht passen. 

Allmendinger: Dann müssen wir ihnen die Furcht nehmen, dass ihr eigenes Kind Schaden nimmt. Viele Eltern sind besorgt über ein Schulsystem, das sortiert, ohne dass Fehleinschätzungen wieder korrigiert werden können. Deshalb haben Mütter und Väter den Eindruck, dass es nur ein enges Zeitfenster gibt, in dem sie ihr Kind fördern müssen. 

SPIEGEL: Was ist an Förderung schlecht? 

Allmendinger: Für unsere Gesellschaft ist es wünschenswert, dass alle Kinder eine gute Bildung bekommen - nicht einige eine bessere Bildung als andere. Ich beobachte aber zunehmend, dass Eltern gegeneinander kämpfen, was ich als Ausdruck der Verunsicherung interpretiere. 

SPIEGEL: Woran machen Sie dieses Konkurrenzdenken fest? 

Allmendinger: Schon in der Grundschule lastet ein enormer Leistungsdruck auf Kindern und Eltern: Reicht die Note für die Gymnasialempfehlung? Vielfach werden sogar Migrantenkinder oder Kinder mit Lernverzögerung misstrauisch beäugt, weil sie das eigene Kind bremsen könnten. Diese Erfahrung mussten die Eltern von Laura auf der Regelschule machen: Die anderen Eltern mieden die Familie. 

SPIEGEL: Das Leistungsdenken macht Eltern zu rücksichtslosen Egoisten? 

Allmendinger: Bei uns herrscht die Vorstellung, in homogenen Gruppen ließe sich am besten lernen. Das System ist auf Abschottung angelegt. Und was einem fremd ist, das lehnt man schnell ab: ein Kind, das noch nicht richtig Deutsch kann, ein Kind, das langsamer begreift. Die Bereitschaft, sich solchen Menschen zu öffnen, ist eindeutig unterentwickelt. Wir sollten aber unseren Kindern schon früh beibringen, wie man mit Vielfalt lebt. Das ist eine wichtige Fähigkeit in einem Land, das sich als weltoffen verstehen will und seinen Bevölkerungsstand nur mittels Zuwanderung einigermaßen stabil hält. Sie lässt sich aber nicht lernen, wenn die Lern- und Lebenswelten der Schüler so homogen bleiben wie bisher. 

SPIEGEL: Mehrere Bundesländer gehen dazu über, Sonderschulen aufzulösen und behinderte Kinder auf Regelschulen zu schicken. Ist Inklusion der richtige Weg? 

Allmendinger: Ja. Andere Länder machen uns vor, dass Kinder wie Laura sehr profitieren. Wie der Blick auf Skandinavien verdeutlicht, sind die allermeisten Kinder mit Behinderung in Regelschulen gut aufgehoben, wenn sie von Sonderpädagogen kompetent betreut werden. Da mag es Ausnahmen geben - auch in Skandinavien gibt es Sonderschulen. Aber in der Regel ist Inklusion der richtige Weg. Das alles kostet Geld, für Stellen und für Lehrerschulungen. Wir sollten uns diese Ausgaben leisten. 

SPIEGEL: Was müssen die Lehrer lernen? 

Allmendinger: Sie sollten in ihrer Ausbildung die pädagogischen Fähigkeiten erwerben, um auf Kinder unterschiedlichster Prägung eingehen zu können. Solche Methoden sind mit Ausnahme von Grundschullehrern kaum Teil des Studiums. Angehende Mathematiklehrer absolvieren dieselben Kurse wie Menschen, die später hier bei uns am Institut als Wissenschaftler anfangen. Dieselbe Ausbildung passt nicht für so unterschiedliche Arbeitsinhalte. Und die Lehrer brauchen bei schwierigen Kindern die Unterstützung von Sozialpsychologen, Sozialpädagogen und Jugendämtern. 

SPIEGEL: Das klingt nicht neu, solche Maßnahmen propagiert die Bildungsforschung schon seit Jahren. Was läuft falsch? 

Allmendinger: Wir kümmern uns nicht entschlossen um jene, die wenig an Bildung bekommen haben. Stattdessen haben wir in den vergangenen Jahren stark auf Exzellenz und Elite geschaut. Auf der anderen Seite geht nach dem Kindergarten die Schere immer weiter auseinander. Dabei wissen wir bereits sehr früh, welche Kinder besondere Aufmerksamkeit brauchen. Um diese Kinder müssten sich alle Akteure intensiv kümmern und sie nicht mehr loslassen. 

SPIEGEL: Ihre persönliche Langzeitstudie spielt in Bremen... 

Allmendinger: ...das hatte ich im Buch geflissentlich verschwiegen... 

SPIEGEL: ...in dem Bundesland also, das bei Vergleichstudien regelmäßig schlecht abschneidet. 

Allmendinger: Ja, und das ist für das Selbstwertgefühl der Kinder verheerend. Die schlechten Ergebnisse färben auf sie ab, sie machen sich Gedanken. Mein Patenkind überlegte zwischenzeitlich, zu den Großeltern nach Süddeutschland zu ziehen, um dort auf die Schule zu gehen. Dabei finde ich die Schulen in Bremen gar nicht so schlecht. Und würde man bei den Vergleichstests neben kognitiven auch soziale Fähigkeiten messen, könnte das Bild ein anderes sein - möglicherweise sind bayerische Schulen da hinterher. Die Bundesländer sollten weniger gegeneinander als vielmehr miteinander arbeiten. 

SPIEGEL: Über die Schulen bestimmen die Bundesländer. Schadet der Föderalismus? 

Allmendinger: Ja. Als Leiterin eines wissenschaftlichen Instituts beobachte ich, dass es leichter ist, neue Arbeitskräfte mit Kindern aus den USA nach Berlin zu holen als aus München. 

SPIEGEL: Derzeit streiten Bund und Länder über das sogenannte Kooperationsverbot, das der Bundesregierung untersagt, Schulen und Hochschulen zu finanzieren. Die CDU-Bundesforschungsministerin Annette Schavan will das Verbot zumindest für Hochschulen lockern. Die SPD, deren Mitglied Sie sind, fordert eine Änderung auch für die Schulen. 

Allmendinger: Ich kann mir keine exzellente Wissenschaft vorstellen in einem System, das in seinen Schulen die Bildungspotentiale nicht voll ausschöpft. Von daher geht das eine nicht ohne das andere. Ich wünsche mir, dass das Kooperationsverbot sowohl für Schulen als auch für Hochschulen abgemildert wird. 

SPIEGEL: Wofür sollte der Bund an Schulen Geld ausgeben dürfen? 

Allmendinger: Es sollte dem Bund etwa erlaubt sein, quer durch die Republik direkt in Schulen zu investieren, die in sozialen Brennpunkten liegen. Solche Schulen können wir anhand bestimmter Kriterien genau identifizieren. Sie sollten mehr Geld und mehr Personal bekommen. Damit wäre schon viel gewonnen.

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