Diskriminiert unser Bildungssystem? Werden Kinder aus sozial schwächeren Familien strukturell benachteiligt? Ja, meint die Soziologin Jutta Allmendinger. Sie musste mit ansehen, wie ihr gut situiertes Patenkind
gefördert wurde, während Klassenkameraden der Aufstieg verwehrt blieb.
In einem Spiegel-Interview fordert Sie, Kinder nicht so früh auszusortieren.
Von Jan Friedmann, Der Spiegel
SPIEGEL: Als Forscherin befassen Sie sich mit dem gesamten
Bildungssystem, mit Politik und Strukturen. In Ihrem neuen Buch
behandeln Sie die großen Fragen anhand der Entwicklung von vier jungen
Menschen, Ihrem Patenkind und drei seiner Freunde. Warum?
Allmendinger: Die vier sind zusammen in den Kindergarten gegangen
und inzwischen volljährig. Damals waren sie die engsten Kameraden,
inzwischen haben sie sich nicht mehr viel zu sagen. Mich bedrückt, wie
weit sich die Lebenswege und die Schulabschlüsse auseinanderentwickelt
haben.
SPIEGEL: Ist das nicht normal?
Allmendinger: Ich habe die Bildungskarrieren dieser jungen
Menschen über Jahre hinweg begleitet, wir haben viel gemeinsam
unternommen. Deshalb glaube ich, dass ich ihre Potentiale gut
einschätzen kann. Im Rückblick muss ich feststellen, dass sich nur einer
der vier gemäß seinen Fähigkeiten entwickeln durfte. Das empfinde ich
als zutiefst ungerecht.
SPIEGEL: Ihr Patenkind - Sie nennen ihn Alex - kommt aus einer
bildungsbürgerlichen Familie und erhält ein Stipendium einer
internationalen Schule in England. Warum hat er mehr Erfolg als die
anderen drei Kinder?
Allmendinger: Alex bekam immer Zuspruch, während das deutsche
Bildungssystem es den anderen schwermachte. Zum Beispiel am Ende der
Grundschule. Ich erinnere mich gut an den Tag, an dem sein Freund Erkan
freudestrahlend zu mir kam und erzählte, dass er eine
Realschulempfehlung bekommen habe. Auch Erkans Eltern waren stolz. Sie
wussten nicht, dass eine noch höhere Schule in Frage gekommen wäre. Eine
solche Realschulempfehlung hätten Alex und seine Eltern hingegen als
Degradierung empfunden.
SPIEGEL: Wo liegt die Ungerechtigkeit?
Allmendinger: Erkan war mindestens ebenbürtig, was Intellekt und
Neugierde angeht. Doch warum durfte er anders als Alex mit teils mäßigen
Noten nicht aufs Gymnasium? Weil mit unterschiedlichem Maß gemessen
wird. Erkan hätte bessere Leistungen als andere Kinder erbringen müssen,
um eine Gymnasialempfehlung zu erhalten.
SPIEGEL: Wer ist schuld?
Allmendinger: Es kommen viele Faktoren zusammen. Ein Schulsystem,
das frühzeitig Selektion erzwingt, Schulen und Lehrer, die sich dieser
Logik unterordnen, und eine Gesellschaft, die dieses System entschieden
verteidigt. Die Eltern von Erkan haben ihre Kinder mit Liebe erzogen.
Doch ihnen war nicht klar, wie das deutsche Schulsystem funktioniert.
Die Schule hätte aktiv auf sie zugehen und die Möglichkeiten aufzeigen
müssen. Anzunehmen, dass Eltern unabhängig vom sozialen Hintergrund
gleichermaßen an die Türen klopfen und für ihre Interessen kämpfen, ist
vermessen.
SPIEGEL: Wie sollen Schulen das leisten?
Allmendinger: Bei Alex sagten die Lehrer ja auch, auf dem
Gymnasium könne nichts schiefgehen, mit solchen Eltern. Dabei hatte er
bisweilen miserable Noten. Erkan bekam nicht einmal seine Chance zum
Aufstieg, als er auf der Realschule sehr erfolgreich war. Die Lehrer
dort wollten ihn auch als Vorbild für die Schwächeren nicht verlieren.
SPIEGEL: Sie schreiben in Ihrem neuen Buch auch über Jenny,
aufgewachsen mit einer alleinerziehenden Mutter in einer Sozialwohnung,
und Laura, ein leicht lernbehindertes Kind. Wie verliefen die Werdegänge
der beiden Mädchen?
Allmendinger: Viele Mädchen sind Selbstläufer im Schulsystem,
nicht so die beiden. Jennys Mutter war sehr mit sich selbst beschäftigt,
sie kam nicht mehr aus ihrem Milieu, ihrer Arbeitslosigkeit heraus.
Ihre Perspektiv- und Hilflosigkeit übertrugen sich auf die Tochter. Die
schaffte einen Hauptschulabschluss, traut sich aber heute kaum noch aus
dem Hochhausviertel heraus. Das hätte nicht passieren müssen, wenn
Jugendamt und Schule sie kontinuierlich begleitet hätten.
SPIEGEL: Und Laura?
Allmendinger: Sie besuchte erst eine Sonderschule und hatte dann
das Glück, einen Integrationsplatz in einer Berufsschule zu erhalten. Es
gefällt ihr dort. Vielleicht kann sie später sogar eine Ausbildung
beginnen. Ihre Eltern haben aber viel Frust erfahren: Sie nahmen Laura
von der Regelschule, weil sie sich dort trotz eines integrativen
Konzepts allein gelassen fühlten.
SPIEGEL: Kann ein Bildungssystem wirklich Kinder mit solch unterschiedlichen Voraussetzungen gerecht werden?
Allmendinger: Das Bildungssystem, wie es derzeit strukturiert
ist, eröffnet kaum Chancen, unterschiedliche Startbedingungen
auszugleichen, es zementiert soziale Ungleichheit. Statt die Kinder
schon nach der Grundschule zu sortieren, wäre es besser, sie länger
gemeinsam lernen zu lassen und ihnen zu ermöglichen, sich gegenseitig zu
stützen.
SPIEGEL: Genau das haben die Hamburger Bürger vor zwei Jahren in
einem Volksentscheid abgelehnt, als sie sich gegen die sechsjährige
Grundschule aussprachen.
Allmendinger: Die Furcht in Deutschland ist ja immer: Die
Schlechten ziehen die Guten nach unten. Die Länder, die in
internationalen Vergleichstests erfolgreich waren - Finnland,
Neuseeland, Kanada -, zeigen uns aber, dass das nicht stimmen muss. Es
geht darum, die Schwächeren mitzuziehen. Das klappt in guten
Kindergärten. Ich sehe nicht, warum wir dieses Prinzip nicht viel weiter
treiben könnten.
SPIEGEL: Eine neue Debatte um die Einheitsschule ist wohl das Letzte, was sich die Eltern in Deutschland wünschen.
Allmendinger: Es geht mir nicht um die Einheitsschule. Es wäre
sinnvoll, bei Schülern erst mit 16 die Leistung breit zu sondieren und
für einige eine gymnasiale Oberstufe anzubieten. Bis dahin sollten wir
die Kinder zusammen lernen lassen.
SPIEGEL: Das wird vielen Eltern nicht passen.
Allmendinger: Dann müssen wir ihnen die Furcht nehmen, dass ihr
eigenes Kind Schaden nimmt. Viele Eltern sind besorgt über ein
Schulsystem, das sortiert, ohne dass Fehleinschätzungen wieder
korrigiert werden können. Deshalb haben Mütter und Väter den Eindruck,
dass es nur ein enges Zeitfenster gibt, in dem sie ihr Kind fördern
müssen.
SPIEGEL: Was ist an Förderung schlecht?
Allmendinger: Für unsere Gesellschaft ist es wünschenswert, dass
alle Kinder eine gute Bildung bekommen - nicht einige eine bessere
Bildung als andere. Ich beobachte aber zunehmend, dass Eltern
gegeneinander kämpfen, was ich als Ausdruck der Verunsicherung
interpretiere.
SPIEGEL: Woran machen Sie dieses Konkurrenzdenken fest?
Allmendinger: Schon in der Grundschule lastet ein enormer
Leistungsdruck auf Kindern und Eltern: Reicht die Note für die
Gymnasialempfehlung? Vielfach werden sogar Migrantenkinder oder Kinder
mit Lernverzögerung misstrauisch beäugt, weil sie das eigene Kind
bremsen könnten. Diese Erfahrung mussten die Eltern von Laura auf der
Regelschule machen: Die anderen Eltern mieden die Familie.
SPIEGEL: Das Leistungsdenken macht Eltern zu rücksichtslosen Egoisten?
Allmendinger: Bei uns herrscht die Vorstellung, in homogenen
Gruppen ließe sich am besten lernen. Das System ist auf Abschottung
angelegt. Und was einem fremd ist, das lehnt man schnell ab: ein Kind,
das noch nicht richtig Deutsch kann, ein Kind, das langsamer begreift.
Die Bereitschaft, sich solchen Menschen zu öffnen, ist eindeutig
unterentwickelt. Wir sollten aber unseren Kindern schon früh beibringen,
wie man mit Vielfalt lebt. Das ist eine wichtige Fähigkeit in einem
Land, das sich als weltoffen verstehen will und seinen Bevölkerungsstand
nur mittels Zuwanderung einigermaßen stabil hält. Sie lässt sich aber
nicht lernen, wenn die Lern- und Lebenswelten der Schüler so homogen
bleiben wie bisher.
SPIEGEL: Mehrere Bundesländer gehen dazu über, Sonderschulen
aufzulösen und behinderte Kinder auf Regelschulen zu schicken. Ist
Inklusion der richtige Weg?
Allmendinger: Ja. Andere Länder machen uns vor, dass Kinder wie
Laura sehr profitieren. Wie der Blick auf Skandinavien verdeutlicht,
sind die allermeisten Kinder mit Behinderung in Regelschulen gut
aufgehoben, wenn sie von Sonderpädagogen kompetent betreut werden. Da
mag es Ausnahmen geben - auch in Skandinavien gibt es Sonderschulen.
Aber in der Regel ist Inklusion der richtige Weg. Das alles kostet Geld,
für Stellen und für Lehrerschulungen. Wir sollten uns diese Ausgaben
leisten.
SPIEGEL: Was müssen die Lehrer lernen?
Allmendinger: Sie sollten in ihrer Ausbildung die pädagogischen
Fähigkeiten erwerben, um auf Kinder unterschiedlichster Prägung eingehen
zu können. Solche Methoden sind mit Ausnahme von Grundschullehrern kaum
Teil des Studiums. Angehende Mathematiklehrer absolvieren dieselben
Kurse wie Menschen, die später hier bei uns am Institut als
Wissenschaftler anfangen. Dieselbe Ausbildung passt nicht für so
unterschiedliche Arbeitsinhalte. Und die Lehrer brauchen bei schwierigen
Kindern die Unterstützung von Sozialpsychologen, Sozialpädagogen und
Jugendämtern.
SPIEGEL: Das klingt nicht neu, solche Maßnahmen propagiert die Bildungsforschung schon seit Jahren. Was läuft falsch?
Allmendinger: Wir kümmern uns nicht entschlossen um jene, die
wenig an Bildung bekommen haben. Stattdessen haben wir in den
vergangenen Jahren stark auf Exzellenz und Elite geschaut. Auf der
anderen Seite geht nach dem Kindergarten die Schere immer weiter
auseinander. Dabei wissen wir bereits sehr früh, welche Kinder besondere
Aufmerksamkeit brauchen. Um diese Kinder müssten sich alle Akteure
intensiv kümmern und sie nicht mehr loslassen.
SPIEGEL: Ihre persönliche Langzeitstudie spielt in Bremen...
Allmendinger: ...das hatte ich im Buch geflissentlich verschwiegen...
SPIEGEL: ...in dem Bundesland also, das bei Vergleichstudien regelmäßig schlecht abschneidet.
Allmendinger: Ja, und das ist für das Selbstwertgefühl der Kinder
verheerend. Die schlechten Ergebnisse färben auf sie ab, sie machen
sich Gedanken. Mein Patenkind überlegte zwischenzeitlich, zu den
Großeltern nach Süddeutschland zu ziehen, um dort auf die Schule zu
gehen. Dabei finde ich die Schulen in Bremen gar nicht so schlecht. Und
würde man bei den Vergleichstests neben kognitiven auch soziale
Fähigkeiten messen, könnte das Bild ein anderes sein - möglicherweise
sind bayerische Schulen da hinterher. Die Bundesländer sollten weniger
gegeneinander als vielmehr miteinander arbeiten.
SPIEGEL: Über die Schulen bestimmen die Bundesländer. Schadet der Föderalismus?
Allmendinger: Ja. Als Leiterin eines wissenschaftlichen Instituts
beobachte ich, dass es leichter ist, neue Arbeitskräfte mit Kindern aus
den USA nach Berlin zu holen als aus München.
SPIEGEL: Derzeit streiten Bund und Länder über das sogenannte
Kooperationsverbot, das der Bundesregierung untersagt, Schulen und
Hochschulen zu finanzieren. Die CDU-Bundesforschungsministerin Annette
Schavan will das Verbot zumindest für Hochschulen lockern. Die SPD,
deren Mitglied Sie sind, fordert eine Änderung auch für die Schulen.
Allmendinger: Ich kann mir keine exzellente Wissenschaft
vorstellen in einem System, das in seinen Schulen die Bildungspotentiale
nicht voll ausschöpft. Von daher geht das eine nicht ohne das andere.
Ich wünsche mir, dass das Kooperationsverbot sowohl für Schulen als auch
für Hochschulen abgemildert wird.
SPIEGEL: Wofür sollte der Bund an Schulen Geld ausgeben dürfen?
Allmendinger: Es sollte dem Bund etwa erlaubt sein, quer durch
die Republik direkt in Schulen zu investieren, die in sozialen
Brennpunkten liegen. Solche Schulen können wir anhand bestimmter
Kriterien genau identifizieren. Sie sollten mehr Geld und mehr Personal
bekommen. Damit wäre schon viel gewonnen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen