Ein Bericht von Johannes Graf, N-TV
Heute, über 100 Jahre später, strotzt der Ex-Patient nur so vor Kraft. In der Aufzählung der Schwellenländer, die in den kommenden Jahren und Jahrzehnten aufholen und Teile der Industrienationen überholen werden, fehlt, neben China, Südafrika und Brasilien, niemals die Türkei. Die wirtschaftliche Entwicklung, die der Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs hinlegt, ist rasant.
Türkische Wirtschaft boomt und boomt
Mit Ausnahme der Krisenjahre 2008 und 2009 lag das Wirtschaftswachstum in der Türkei im vergangenen Jahrzehnt immer bei rund 5 Prozent oder höher. 2010 gelang gar ein Anstieg um 9 Prozent, für 2011 liegen noch keine endgültigen Daten vor. Prognostiziert wurde ein Plus um 7,5 Prozent. Nach der Rezession kam das Land schneller wieder auf die Beine als viele andere. Mittlerweile ist das Land die siebzehntgrößte Volkswirtschaft der Welt.
Das hat Gründe: Systematisch ist die AKP-Regierung unter Recep Tayyip Erdogan darangegangen, die türkische Wirtschaft auf Erfolg zu trimmen. Staatsunternehmen privatisierte, den Haushalt sanierte sie. Das Steuersystem modernisierten die Reformer radikal. Damit blühten große Unternehmen und Wirtschaftszweige, aber auch der türkische Mittelstand auf.
Für die oberste europäische Liga reicht es zwar oft noch nicht, die schlagkräftigsten türkischen Unternehmen sind nur Insidern bekannt: Da ist etwa die Koç-Holding, ein Mischkonzern, der - gemessen am Umsatz - mit der Lufthansa zu vergleichen ist. Unter den größten Firmen tummeln sich die Industrie- und Finanzgruppe Sabanci Holding oder die Banken Türkiye Bankasi und die T.C. Ziraat Bankasi. Außerhalb der Türkei spielen diese Firmen kaum eine Rolle. Klingeln dürfte es bei vielen eher noch bei dem Lebensmittelkonzern Ülker oder der Fluglinie Turkish Airlines.
EU lässt Türkei links liegen
Doch von den Türken ist noch einiges mehr zu erwarten. 2010 war über die Hälfte der Bevölkerung unter 30 Jahre alt. Eine Generation immer besser ausgebildeter Türken wächst heran, heiß darauf, der Welt den Schneid abzukaufen.
Einer von ihnen ist Inan Türkmen. Der Mittzwanziger ist in Österreich aufgewachsen, kennt die Mentalität seiner Landsleute und hat dem neuen türkischen Selbstbewusstsein in dem Buch "Wir kommen" Ausdruck verliehen. Die Jugendlichen in der Türkei seien "hungrig, weil sie ohne den Wohlstand aufgewachsen sind, den viele in Europa kennen", sagt Türkmen n-tv.de. "Diese junge Generation will etwas bewegen."
Die neue wirtschaftliche Stärke der Türkei nährt auch das Selbstbewusstsein der politischen Führer des Landes. Seit der Übernahme der Regierung durch die AKP und Recep Tayyip Erdogan wird immer wieder ein neuer Anspruch deutlich: Die Türkei will, inkarniert durch Außenminister Ahmet Davutoglu, als Regionalmacht angesehen werden - auch weil die EU der Türkei keine ernsthafte Beitrittsperspektive bietet.
In der Region ist die Türkei wer
"In der Türkei gibt es viele Stimmen, die sagen: Eigentlich will man uns ja in der EU gar nicht. Da streben wir lieber eine Führungsrolle in der islamischen Welt an, als ewiger Bittsteller oder EU-Mitglied zweiter Klasse zu sein", sagt der Politologe Cemal Karakas n-tv.de.
Außenminister Davutoglu rief dazu die Doktrin der "Null Probleme" aus. "Null Probleme", weil die Türkei kontinuierlich daran gegangen ist, Konflikte mit den Nachbarn zu minimieren, Partnerschaften aufzubauen - und davon vor allem ökonomisch zu profitieren.
"Die türkische Wirtschaft strahlt intensiv in die Region aus. Die Türken sind sehr stark auf dem Balkan, im Kaukasus, in Zentralasien und mit wachsender Intensität auch auf den arabischen Märkten", sagt Islamwissenschaftler und Türkei-Kenner Udo Steinbach n-tv.de. Reger Handel entsteht auch mit dem Iran, dem kurdischen Teil des Irak und dem Nachbarn Syrien.
"Null Probleme" macht Probleme
Beim Streben nach mehr regionaler Macht könnten die Umstürze in der arabischen Welt der Türkei zusätzlich von Nutzen sein. Denn wie das Land versucht hatte, sich mit den Despoten der Region zu arrangieren, so reicht es auch den neuen Regierungen die Hand. Staatspräsident Abdullah Gül ist etwa das erste ausländische Staatsoberhaupt, das nach der Jasmin-Revolution nach Tunis reiste.
Tatsächlich wird die Türkei in vielen Ländern der Region, in denen die alten Autokraten aus ihren Palästen gejagt worden sind, als Vorbild gesehen - als muslimisch geprägtes Land, das seit Jahren demokratisch regiert wird. Wenn die neuen Kräfte in Ägypten, in Tunesien, in Libyen, vielleicht auch bald in Syrien zur Türkei aufschauen, macht das das Land noch größer.
Doch diese Bewunderung ist brüchig. Denn die Nähe zu den einstigen Diktatoren der Region ist nicht vergessen. Exemplarisch zeigt das das Verhältnis zu Damaskus. Neben etlichen wirtschaftlichen und militärischen Abkommen entwickelte Erdogan eine persönliche Freundschaft zu Machthaber Baschar al-Assad. Peinlich dann die Kehrtwende, als die Welt und auch die Türkei erkannte, wie brutal das Assad-Regime gegen das eigene Volk vorgeht.
Zum Jahrestag will die Türkei erstrahlen
Öffentlich erklärte Erdogan, der in Friedenszeiten gerne die Ferien mit Assad verbrachte: "Baschar, es kommt alles zurück. Früher oder später musst du für Homs die Rechnung bezahlen." Erdogan stellte sich auf die Seite der Assad-Gegner und versucht, unter den "Freunden Syriens" die Speerspitze des Wandels zu repräsentieren. Türkei-Experte Karakas spricht von einem "Eiertanz" und urteilt: "Man kann nicht jahrelang das Assad-Regime hofieren und, wenn der politische Wind sich dreht, schnell auf den fahrenden Zug aufspringen wollen und so tun, als ob man die syrischen Demokratiedefizite schon immer angeprangert hat. Das ist unglaubwürdig."
Von solchen Rückschlägen in der Außenpolitik will sich die Türkei nicht beirren lassen: 2023, zum 100-jährigen Jubiläum der Republik, will Ankara zu den zehn bedeutendsten Nationen der Welt gehören, das ist erklärtes Ziel. Dazu ist ein anhaltender Boom der Wirtschaft nötig. Und genau dort drohen Probleme. Es gibt Warnzeichen, dass es mit der Herrlichkeit bald vorüber sein könnte. Experten befürchten, dass eine Überhitzung eintritt: Seit Jahren importiert das Land mehr als es exportiert. Die Abhängigkeit von fremdem Kapital ist hoch. Kein Problem, solange der Wachstumsmotor läuft. Kommt ein Einbruch, droht der Fall in ein großes Loch.
Das Heil sucht die Türkei in intensiveren Beziehungen zu den Boom-Regionen der Welt - Afrika, China und Indien. Weltgegenden, in denen die Türkei bislang kaum präsent gewesen ist. Doch das wird nicht reichen, um in die absolute Weltspitze vorzustoßen, meint Udo Steinbach. Dazu müsse die Türkei sich dann doch wieder auf ein altes Anliegen besinnen: "Nötig ist die Anbindung an einen wirklich bedeutenden Partner. Und damit meine ich das Weiterverfolgen der europäischen Perspektive."
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