Dienstag, 27. März 2012

Türkisch für Anfänger - Eine etwas andere Olympiade

Ein hessischer Schüler rührt in Ankara ein Millionenpublikum mit einem Gedicht – in einer Sprache, die er nicht versteht. Hinter der Türkischolympiade steckt eine muslimische Massenbewegung - die von Fethullah Gülen inspirierte "Hizmet-Bewegung".
Von Martin Spiewak, die Zeit

Nico Weber bei der Türkischolympiade
Nico hat seinen Auftritt am zweiten Tag gegen Mittag, gleich nach einem sehr blonden Mädchen, das Norwegen vertritt. Emotional soll er sein, hat man ihm gesagt. Das mögen die Türken. Deshalb hebt Nico jetzt die rechte Hand ans Herz. Er geht in die Knie und deklamiert die Strophen, die er wieder und wieder geübt hat. Von Blumen ist darin die Rede und von der Sehnsucht nach Heimat, die man nur in der Fremde verspürt. Was er genau vorträgt, versteht Nico freilich nicht. Schließlich kann er bis auf ein paar Brocken gar kein Türkisch. Nur dass sein Gedicht die Herzen rühren kann, weiß der Zwölfjährige. Als er es das letzte Mal vor Publikum vortrug, flossen Tränen.

Ein hessischer Junge, der auf Türkisch Verse vorträgt, obwohl er die Sprache nicht spricht. Ein modernes Megaevent, das jedes Jahr in der Türkei Millionen Zuschauer mit traditionellen Gedichten und Volksliedern begeistert. Ein weltweites muslimisches Bildungsnetzwerk, das offiziell weder einen Namen noch eine Adresse besitzt: Es ist eine eigenartige Geschichte, die Nico Weber, einen Realschüler aus Deutschland, auf eine Bühne in die Türkei verschlagen hat. Ihm selbst kommt sie bis heute vor wie ein orientalisches Märchen.

Diese Geschichte spielt in Gießen und Stuttgart, in Ankara und ein bisschen auch im amerikanischen Pennsylvania. Hier lebt ein Korangelehrter namens Fethullah Gülen, der in seinen Schriften ein islamisches Gutmenschentum predigt – und die größte muslimische Bildungsbewegung der Welt begründet hat. Dazu gehört auch die »Internationale Türkischolympiade«, bei der Nico gegen Jugendliche aus der ganzen Welt antritt. Sie alle kämpfen um den Titel des besten Interpreten türkischen Kulturguts.

Weder Nico noch seine Eltern haben von Fethullah Gülen jemals gehört. Ohnehin hatten sie bis vor einiger Zeit – bis auf einen Badeurlaub – nichts mit der Türkei zu tun. Sie kannten nur Abdurahman. Abdu, wie er genannt wird, geht mit Nico gemeinsam in eine Klasse. Er ist sein bester Freund. Eines Tages fragte Abdu, ob Nico nicht bei einer »Türkischolympiade« mitmachen wolle. Seit 2003 gibt es diesen internationalen Wettbewerb, eine Art »Die Türkei sucht den Superstar« der Volksmusik. Neben türkischstämmigen Teilnehmern aus dem In- und Ausland gehen auch immer Nichtmuttersprachler aus der ganzen Welt ins Rennen.

Abdu schien die Sache irgendwie wichtig zu sein. Und so sagte Nico zu. Ein türkisches Heimatgedicht wurde ausgesucht, und Nico lernte die fremden Verse auswendig. Er übte die Betonungen, trainierte, seine Worte mit pathetischen Gesten zu unterstreichen – und schlug die Mitbewerber bei der Regionalentscheidung in Gießen aus dem Feld.

Vielleicht war es seine überraschend gute Aussprache, vielleicht die Art, wie der sonst eher schüchterne und verträumte Junge auf der Bühne aus sich herauskommt: Auch bei der nationalen Ausscheidung in Paderborn konnte er die Jury in seiner Kategorie überzeugen. Er gewann einen iPod, einen Laptop sowie die Einladung, für zwölf Tage zur Endrunde in die Türkei zu fliegen. »Da wurde uns das erste Mal etwas mulmig«, sagt Claudia Weber, Nicos Mutter.

Die Dimension des Unternehmens erahnen die beiden jedoch erst, als sie in Ankara ankommen. Schon am Flughafen begrüßen sie riesige Plakate: »Willkommen zur Internationalen Türkischolympiade«. Unzählige Busse und Privatwagen warten auf die Delegationen, die aus allen Ecken der Welt angereist sind. Türkische Kopftuchträgerinnen mischen sich unter Afrikanerinnen mit Rastalocken. Mexikaner tragen Riesensombreros, schmale Thaimädchen goldene Kronen. Eine bunt gewandete Truppe aus Südafrika geht an einem Bildschirm vorbei und kreischt auf: Gerade sieht sie ihre Ankunft auf dem Flughafen im Fernsehen.

Was vor knapp zehn Jahren als Zusammenkunft türkischer Auslandsschulen mit einigen Dutzend Teilnehmern begann, ist zu einem nationalen Großereignis angewachsen. Die Medien berichten jeden Tag, zur Eröffnungsveranstaltung und zur Abschluss-Show erscheint das halbe türkische Kabinett. In der Woche dazwischen werden die Olympioniken per Bus und Flugzeug in die größten Städte des Landes befördert, um dort die Sportstadien mit ihren Folkloredarbietungen zu füllen.

Keiner der Teilnehmer muss für Flüge, Unterkunft oder Verpflegung bezahlen. Der Wettbewerb finanziert sich vor allem über Spenden – und die meisten Helfer arbeiten für umsonst. Oder besser gesagt: für Gotteslohn. Nico und seine Mutter zum Beispiel fährt ein Geschäftsmann aus der Baubranche in seinem Privatwagen ins olympische Dorf und lädt sie auch gleich noch zum Essen ein.

Der Grund für seine Freundlichkeit ist hizmet. So nennen die Gefolgsleute von Olympiade-Gründer Fethullah Gülen ihren Dienst an der Gesellschaft. Der türkische Prediger interpretiert den Islam als Religion der guten Tat. Der Mensch soll sein Schicksal nicht passiv im Gebet erdulden, sondern die Welt zum Besseren verändern, egal, ob als Lehrer oder Unternehmer, Journalist oder Ingenieur.

Der heute 70-jährige Gottesmann hat in den vergangenen drei Jahrzehnten eine muslimische Massenbewegung inspiriert. In der Türkei sollen über zehn Millionen Menschen seiner Botschaft folgen. Ein Medienimperium mit der größten Tageszeitung des Landes (Zaman) an der Spitze verbreitet dort seine Ideen. Darüber hinaus betreibt »die Bewegung«, wie sie sich nennt, Banken, Hotels und Krankenhäuser. Die Gruppierung sei »sehr groß, sehr stark und sehr reich«, schreibt die amerikanische Soziologin Helen Rose Ebaugh, deren Studie über die Bewegung gerade auf Deutsch erschienen ist. Zehn Prozent ihres Einkommens stiften viele Anhänger Gülens einer guten Sache. Weltweit kommen dabei riesige Summen zusammen.

Das meiste Geld fließt in Bildungsprojekte. Mehr als tausend Oberschulen und Dutzende Universitäten haben Gülen-Anhänger weltweit gegründet, unter anderem auch in Berlin, Mannheim und Köln. Wann immer Türken irgendwo auf der Welt ein Gymnasium, einen Kindergarten oder eine Nachhilfeeinrichtung eröffnen, ist dies mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ihn zurückzuführen: den Hoçaeffendi (»verehrten Lehrer«), dessen bekannteste Parole »Baut Schulen statt Moscheen« lautet.

Die meisten Teilnehmer der Türkischolympiade sind – anders als Nico – Schüler der Gülen-Schulen. Am ersten Abend haben sie im Ankaraer Altn-Park, einem Freizeitareal in der türkischen Hauptstadt, ihren ersten großen Auftritt. Heute Abend sollen sie zeigen, was ihr Land ausmacht. Tausende jubeln, als die 130 Delegationen in landestypischer Kleidung auf die Freilichtbühne stürmen. Darunter ein blonder Junge in Lederhosen: Nico. Drei Fernsehsender berichten live.

Sie zeigen einen internationalen Musikantenstadl. Jugendliche Russen tanzen Kasatschok, aus den USA gibt es Cowboysongs. Anatolische Liebeslieder, vorgetragen von jungen Afrikanerinnen, kommen am besten an. Der Moderator, ein bekanntes Gesicht aus dem Fernsehen, beschwört mit pathetischer Stimme »Völkerverständigung«, »Dialog« und »Frieden zwischen den Menschen«, eine der Hauptbotschaften Fethullah Gülens.

Dessen Name jedoch taucht bei der Türkischolympiade – wie auch in den Schulen der Bewegung – an keiner Stelle auf, geschweige denn seine Schriften oder gar sein Bild: das lächelnde Großvatergesicht mit dem Schnauzbart. Nur einmal sendet Ankaras Bürgermeister dem »verehrten Lehrer« wie beiläufig einen Gruß in die USA. Die Menschen danken es ihm mit frenetischem Beifall.

»Gülen inspiriert uns, viele von uns sind sehr gläubig. Aber mit Religion hat die Türkischolympiade nichts zu tun«, versichert Taner Ünal von »Academy«. Der Verein koordiniert die Bildungsaktivitäten der Bewegung in Deutschland. Von Frankfurt aus gibt er Organisationshilfe bei der Gründung neuer Schulen, vermittelt Lehrer, erstellt Unterrichtsmaterial. Zugleich organisiert Academy den Wettbewerb in Deutschland – wozu es sich wiederum auf Mitarbeiter aus den anderen Einrichtungen der Bewegung verlassen kann. Auf Freiwillige wie Ufuk Karakoz zum Beispiel. Der Zwanzigjährige ist ein schmaler, gut frisierter junger Mann mit fast altmodisch korrekten Manieren und einem Flaum auf der Oberlippe. Sieht man ihn neben Nico, könnte man ihn fast für einen Klassenkameraden halten. Dabei war er für ein halbes Jahr sein Türkischlehrer. Einmal die Woche, am Ende öfter, bereiteten die beiden Nicos Auftritte vor. Von Religion sei kein einziges Mal die Rede gewesen, sagen beide.

Ufuk war ein guter Lehrer, der viel lobte und auch dann nicht die Geduld verlor, wenn Nico nach 90 Minuten von den fremden Versen der Kopf schwirrte. Meist trafen sich die zwei im Optimum, einem Nachhilfezentrum in Gießen. Hier machen Schüler – die meisten stammen aus Migrantenfamilien – Hausaufgaben und bereiten sich auf Klausuren vor. Rund 140 solcher Einrichtungen zählt die Bewegung in Deutschland. Auch Ufuk hat in einem solchen Verein in Berlin Förderstunden in Mathe und Deutsch bekommen. Ohne sie hätte er sein Abitur wohl nicht bestanden. Nun studiert er auf Lehramt und gibt seine Erfahrungen bei Optimum weiter: als Nachhilfekraft und Jugendbetreuer. Mit seiner Gruppe geht er Fußball spielen oder ins Museum. Auch Abdu ist dabei, Nicos Freund aus der Schule.

In Deutschland hat man den Wettbewerb vor drei Jahren umbenannt. Türkischolympiade hörte sich zu nationalistisch an. Es klang nach Abschottung. Nun heißt es Deutsch-türkische Kulturolympiade. Bei der Abschlussveranstaltung in der Porsche-Arena in Stuttgart moderierte man erstmals zweisprachig. Und neben dem Türkischwettbewerb gab es nun auch einen Deutschwettbewerb.

In Stuttgart trat Guten Abend, gut’ Nacht gegen Heidi an, gesungen von Schülern aus Migrantenfamilien. Jugendliche trugen die Mephisto-Szene aus Goethes Faust vor. Und Mütter mit Kopftuch schwenkten die deutsche Fahne. Die anwesende einheimische Politprominenz zeigte sich beeindruckt von solch beflissener politischer Korrekt-heit. SPD-Landeschef Nils Schmid fand lobende Worte auf Tür- kisch. Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) sprach von einem »wunderbaren Beispiel der Integration«.

Die Organisatoren vernahmen es mit Wohlgefallen. Anders als die meisten islamischen Gruppierungen, die dem deutschen Staat misstrauisch gegenüberstehen, sucht die Bewegung bewusst seine Nähe. Und nichts freut die Gülen-Anhänger mehr, als alles richtig zu machen. Sie agieren äußerst anpassungsfähig, sind lernbegierig und von fast preußischer Zuverlässigkeit und Disziplin. Wie in der Türkei stammen viele deutsche »Fethullahçis« aus einfachen Familien. Mit Bildungseifer und Pflichtbewusstsein haben sie sich hochgearbeitet. Statt über Diskriminierung zu klagen, fragen sie eher, was sie besser machen können. Gäbe es einen Wettbewerb »Deutschland sucht den Mustermuslim« – der Sieger wäre ein Gülen-Anhänger.

Bei der Türkischolympiade in Ankara repräsentieren sie ihr Land an einem Stand mit einer ICE-Modelleisenbahn. Geduldig umkurvt sie Gartenzwerge, Kuckucksuhren und Vereinsembleme aus der Fußballbundesliga. Poster von Einstein, Cem Özdemir und Mesut Özil schmücken die Stellwände. Den Besuchern der Völkerschau – wieder sind es weit über hunderttausend – scheint das zu gefallen. In riesigen Trauben drängen sie sich vor dem deutschen Stand. Sie bestaunen kleine Automodelle der bekannten Marken aus Wolfsburg und Stuttgart, setzen sich Schultüten aus der Deutschland-Deko auf den Kopf, weil sie sie für Hüte halten, und machen Fotos.

Besonders Nico hat es ihnen angetan. Er hat unter leichtem Protest noch einmal seine Lederhosen angezogen. Immer wieder muss er in Handykameras lächeln. Nach zwei Stunden ist er genervt. In der Halle ist es heiß, das Deutschland-Repräsentieren zehrt an den Kräften. Inzwischen weiß Nico, dass er nicht zu den Siegern gehören wird. Die norwegische Konkurrentin war wohl besser. Dennoch rafft er sich noch einmal auf, sein Gedicht auf einer der vielen Messebühnen vorzutragen. Als die Hintergrundmusik erklingt, fällt die Müdigkeit von ihm ab. Plötzlich ist er ganz locker. Das Publikum jubelt und fordert eine Zugabe. Wenn ihn doch nur Ufuk sehen könnte, sein Lehrer! Er konnte wegen mehrerer Uni-Klausuren nicht mit in die Türkei. Aber täglich hat er angerufen. Er wäre jetzt sehr zufrieden mit seinem Schüler.

Mittlerweile laufen die Vorrunden zur Zehnten Olympiade. Statt zwölf Regionalwettbewerbern sind es in diesem Jahr vierzehn, statt 6000 Besuchern wie in Stuttgart hofft man in Frankfurt zur Endausscheidung in der Messefesthalle auf 8000. Auch die Kanzlerin hat natürlich wieder eine Einladung bekommen, wie alle anderen Mitglieder des Kabinetts. Sie wird wie in den Jahren zuvor wieder absagen.

Dafür wird Nico wohl dabei sein. Die fremde Sprache hat er nicht weitergelernt. Der Ausflug in die türkische Welt aber ist ihm für immer in Erinnerung geblieben. Von türkischen Ladenbesitzern in Gießen wurde er angesprochen; sie hatten ihn aus dem Fernsehen wiedererkannt. Sein Schulleiter kam in den Unterricht, um ihn zu beglückwünschen. Auch seine Mitschüler fanden es irgendwie cool. In Frankfurt ist für ihn bereits ein Platz im VIP-Bereich reserviert.


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