Ein Resümee von Heribert Prantl von der SZ
Die neue deutsche Geschichte begann vor fünfzig Jahren; sie begann 1961 an einem Montag, nach einem viel zu warmen Monat Oktober; sie begann so, dass niemand es merkte - irgendwie mickrig, ohne Trara, ohne Staatsbesuch, ohne Nationalhymnen, ohne feierliche Reden, ohne Händedruck; es gab keine in Leder gebundenen Urkunden, und niemand setzte ein bedeutendes Gesicht auf.
Als staatsrechtlich bedeutsamen Akt verstand es niemand, dass da zwei Seiten Papier hin- und hergeschickt wurden. Im Text dieser zwei Seiten ging es ja nur um eine Art Liefervertrag: Das Auswärtige Amt in Bonn gab in einem kurzen Schreiben an die türkische Botschaft eine Bestellung auf - und die Botschaft beehrte sich mitzuteilen, dass sie gerne liefern werde. Es handelte sich nicht um die Lieferung von Haselnüssen für bundesdeutsche Kantinen, sondern um die Lieferung von billigen Arbeitern für die bundesdeutsche Wirtschaft, genannt "Vermittlung von türkischen Arbeitnehmern nach der Bundesrepublik Deutschland".
Dieser Tag hat Deutschland verändert; Es war ein historischer Tag ohne tagesaktuelle Bedeutung. Im Auswärtigen Amt hatte man andere Sorgen. Es war der letzte Tag des Außenministers Heinrich von Brentano, der zwei Tage vorher beim 85-jährigen Kanzler Konrad Adenauer seinen Rücktritt eingereicht hatte. Adenauer hatte soeben in der Bundestagswahl gegen Willy Brandt die absolute Mehrheit verloren und musste Koalitionsverhandlungen mit der FDP führen.
In Berlin wurde derweil die Mauer weiter hochgezogen. Damit war das Nadelöhr in den Westen zubetoniert, der Eiserne Vorhang dicht, der Zustrom von Menschen aus dem Osten gestoppt. Die Industrie war aber auf diesen Zustrom angewiesen. Die Wirtschaft boomte, Arbeitslose gab es nicht. Die Hochöfen mussten geschürt, die Autos zusammengebaut werden. Ford und Opel brauchten fleißige und billige Arbeiter, und die Türkei hatte welche. Die Bundesregierung ließ sie kommen.
Das war die Situation am türkeiwarmen Montag, 30. Oktober 1961. Das Anwerbeabkommen mit der Türkei war eine der Folgen des Mauerbaus. Walter Ulbricht wurde so zum Vater eines neuen Deutschland, indirekt, ungewollt und ohne dass es jemand hierzulande oder in der Türkei geahnt hätte. Und die türkischen Arbeiter gestalteten das Wirtschaftswunder mit. Heute gibt es deutsche Politiker, die Evrim Baba, Mustafa Kara, Eran Toprak oder Nesrin Yilmaz heißen, es gibt eine Sozialministerin Aygül Özkan in Niedersachsen, eine Integrationsministerin Bilkay Öney in Baden-Württemberg und einen Parteivorsitzenden namens Özdemir.
Die Kanzlerin hat vor einem Jahr, nach einem Fußballsieg über die Türkei, dem deutschen Nationalspieler Mesut Özil in der Umkleidekabine gratuliert. In Roisdorf zwischen Bonn und Köln gibt es eine Karnevalsprinzessin namens Füsun I. Es gibt Allianz-Manager, IT-Spezialisten, Feuerwehrkommandanten und Tennisvereinskassierer mit vielen Ö und Ü im Namen. Ein deutsch-türkischer Unternehmertypus ist gewachsen - ziemlich fleißig, ziemlich zuverlässig und sehr dienstleistungsstark.
Deutschland hat sich verändert, mindestens so sehr wie das Ruhrgebiet im 19. Jahrhundert, als dort die polnischen Einwanderer kamen und blieben. Deutschland ist, ob man das Wort mag oder nicht, multikulturell geworden, multireligiös - und multiverstört. Es gab furchtbare Ausschreitungen; 1993 setzten Rechtsextreme in Solingen das Haus einer türkischen Familie in Brand; fünf Menschen starben.
Bis heute redet man sehr viel über die Probleme von Einwanderung und Integration, aber zu wenig über den Reichtum, die Schätze und die Erfahrung, die Deutschland dabei gewinnt. "Der Islam gehört zu Deutschland", sagt der Bundespräsident, aber viele Leute wollen das immer noch nicht glauben, so wie die Politik jahrzehntelang nicht glauben wollte, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden war. Deshalb gab es auch keine Einwanderungspolitik.
Mehr als zweieinhalb Millionen Türken bewarben sich zwischen 1961 und 1973 auf der Basis des Anwerbeabkommens um eine Arbeitserlaubnis; jeder vierte erhielt sie. Sie sollten hier zwei, drei, vier Jahre arbeiten, sparen, und wieder nach Hause gehen; so sahen es die Deutschen, so sahen es die Türken. Aber es kam alles anders. Die Türken arbeiteten, sie sparten, sie kauften sich ein Auto, sie arbeiteten weiter, sie sparten noch mehr, nicht wenige kauften sich sogar ein Häuschen - in Deutschland. "Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen." Diese sieben Wörter des Schriftstellers Max Frisch beschreiben alle Probleme der vergangenen fünfzig Jahre, auch die schrecklichen Versäumnisse der Politik, die erst 2005 ein einigermaßen vernünftiges Gesetz zustande brachte.
Was Integration bedeutet
Als die Bundesregierung, mitten in der ersten Wirtschaftskrise, die Anwerbung stoppte, kamen trotzdem weiter Türken, nun als Flüchtlinge. In der Türkei putschte 1980 das Militär, und vor allem Kurden und Flüchtlinge aus der intellektuellen Oberschicht baten um Asyl.
Aber mit dem Begriff "Einwanderung" begann sich Deutschland erst anzufreunden, als es schon ein Auswanderungsland war; seit 2006 kehrt sich die Migrationsbilanz um, es ziehen mehr Menschen aus Deutschland in die Türkei als umgekehrt. Aus dem Entwicklungsland Türkei ist ein Industriestaat geworden und aus der Bundesrepublik ein wiedervereinigtes Land, das noch eine zweite deutsche Einheit schaffen muss: die Vereinigung von Bürgern deutscher und ausländischer Herkunft ohne Abwertung der Neubürger, die sich in Ausdrücken wie "Papierdeutscher" zeigt.
Diese zweite Einheit ist nicht nur eine Sache von Gesetzen und sehr viel mehr als die Addition aller Dönerbuden in den Fußgängerzonen. Integration ist ein demokratisches Miteinander: Gemeinsame Zukunft miteinander gestalten.
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