Freitag, 29. Juni 2012

Im Reißwolf des Verfassungsschutzes

Versehen oder Vertuschung? Bei den Ermittlungen zur Neonazi-Mordserie ist dem Verfassungsschutz eine gravierende Panne unterlaufen. Die Behörde vernichtete in dem Zusammenhang Akten, nachdem das Trio aus Zwickau bereits mehrere Tage aufgeflogen war.
Von Matthias Gebauer und Sven Röbel, Der Spiegel

Heinz Fromm und Jörg Ziercke (2011): Aktenvernichtung durch den Verfassungsschutz
Heinz Fromm und Jörg Ziercke (2011): Aktenvernichtung durch den Verfassungsschutz

Wenn es um die behördlichen Ermittlungen im Fall der rechten Terrorzelle "Nationalsozialistischer Untergrund" geht, hat man sich an das Wort Versagen beinahe gewöhnt. Sieben Monate nach dem Auffliegen des Trios und seiner Mordserie gibt es nun weitere Belege, dass Polizei und Geheimdienste schlecht zusammen- und teils sogar gegeneinander gearbeitet haben und Hinweise übersehen wurden.

Ein Untersuchungsausschuss im Parlament soll Aufklärung bringen. Vor ihm trat am Donnerstagmorgen der Chef des Bundeskriminalamts auf. Es war ein bitterer Moment für Jörg Ziercke. Schon zu Beginn der Sitzung musste er gravierende Fehler bei den Ermittlungen im Fall der Zwickauer Terrorzelle einräumen. "Wir haben versagt", sagte Deutschlands oberster Polizeiermittler für alle beteiligten Sicherheitsbehörden.

Auch wenn er für seinen Apparat keine konkreten Fehler zugeben wollte, sei man dem Schutzauftrag für die Bevölkerung nicht nachgekommen. Wer den BKA-Chef ein bisschen kennt, weiß, wie schwer dem Karrierebeamten solche Eingeständnisse fallen. Gleichsam wusste der BKA-Chef, dass seine Aussage an diesem Tag wohl nur eine Randrolle spielen würde.

Denn am Mittwochabend hatte das Bundesinnenministerium zunächst ausgewählte Abgeordnete und das Kontrollgremium für die Geheimdienste informiert, dass kurz nach dem Auffliegen der Zelle Anfang November 2011 im Bundesamt für Verfassungsschutz einige Akten gelöscht worden waren. Diese seien möglicherweise für die weiteren Ermittlungen relevant gewesen. 

Mittwoch, 27. Juni 2012

Körperverletzung - Gericht stellt Beschneidung unter Strafe

Dieses Urteil wird insbesondere unter Juden und Muslimen hohe Wellen schlagen: Dem Landgericht Köln zufolge ist die aus religiöser Überzeugung durchgeführte Beschneidung von Jungen künftig als Körperverletzung zu werten.
von Matthias Ruch, FTD

Wer Jungen aus religiösen Gründen beschneidet, macht sich wegen Körperverletzung strafbar. Dies hat das Landgericht Köln in einem wegweisenden Urteil entschieden. Weder das Elternrecht noch die im Grundgesetz garantierte Religionsfreiheit können diesen Eingriff rechtfertigen, stellte das Gericht in seiner Urteilsbegründung klar.
Bundespräsident Joachim Gauck: "Die Muslime, die hier leben, ...
Bundespräsident Joachim Gauck: "Die Muslime, die hier leben, gehören zu Deutschland.
Damit stellt erstmals ein deutsches Gericht den religiösen Brauch unter Strafe. Jährlich werden in Deutschland mehrere tausend Jungen in ihren ersten Lebensjahren auf Wunsch der Eltern beschnitten. In den USA wird sogar die Mehrheit aller Jungen - weitgehend unabhängig von der Religion - direkt nach Geburt beschnitten. Auch dort formiert sich nun aber massiver Widerstand gegen diese Praxis. Weltweit sind rund ein Viertel aller Männer beschnitten.

Über Jahrzehnte hatten Ärzte in Deutschland in einer juristischen Grauzone agiert, wenn sie Jungen aus rein religiösen Gründen beschnitten, ohne dass es eine medizinische Notwendigkeit gab. Bislang konnten sie sich jedoch darauf berufen, keine Kenntnis von der Strafbarkeit religiöser Beschneidungen gehabt zu haben. Selbst wenn ein Gericht den Einzelfall später als Körperverletzung anerkannte, musste der Arzt wegen des so genannten Verbotsirrtums freigesprochen werden. Mit dem Kölner Urteil fällt diese Möglichkeit nun weg.

"Das Urteil ist vor allem für Ärzte enorm wichtig, weil diese jetzt zum ersten Mal Rechtssicherheit haben", sagte Holm Putzke von der Universität Passau. Der Strafrechtler fordert seit Jahren ein ausdrückliches Verbot der religiösen Beschneidung. "Das Gericht hat sich - anders als viele Politiker - nicht von der Sorge abschrecken lassen, als antisemitisch und religionsfeindlich kritisiert zu werden", lobte Putzke. "Diese Entscheidung könnte nicht nur die zukünftige Rechtsprechung prägen, sondern im besten Fall auch bei den betroffenen Religionen zu einem Bewusstseinswandel führen, Grundrechte von Kindern zu respektieren."

Vor allem muslimische und jüdische Organisationen weisen die Forderungen nach einer Strafbarkeit der Beschneidung bislang entschieden zurück. Sie werten ein Verbot als "schweren Eingriff in das Recht auf freie Religionsausübung". Zum Kölner Urteil wollten sie sich am Montag auf Anfrage zunächst nicht äußern. Man wolle zunächst die Urteilsbegründung prüfen, hieß es.

Der Richterspruch dürfte für Diskussionen sorgen. Seit Jahren ringen Politik und Verbände um eine bessere Integration der muslimischen Bevölkerung. Wolfgang Schäuble berief dazu als Innenminister 2006 erstmals eine eigene Islamkonferenz ein. Der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff sagte: "Der Islam gehört zu Deutschland." Sein Nachfolger Joachim Gauck variierte: "Die Muslime, die hier leben, gehören zu Deutschland." Einige Muslime dürften das Kölner Urteil nun als einen Rückschritt auffassen. Experten gehen davon aus, dass nun weitere Fälle andernorts vor Gericht landen werden. Abschließend könnte die Frage nach der Strafbarkeit religiös motivierter Beschneidungen dann wohl vom Bundesverfassungsgericht geregelt werden.

Im Kölner Fall hatte ein muslimischer Arzt an einem vierjährigen Jungen auf Wunsch der Eltern eine Beschneidung vorgenommen. Zwei Tage später kam es zu Nachblutungen, die Mutter brachte den Jungen in die Kindernotaufnahme. Die Staatsanwaltschaft erhielt Kenntnis davon und erhob Anklage gegen den Beschneider. Nachdem das Amtsgericht den Eingriff für rechtens befand, legte sie Berufung ein. Das Landgericht wertete ihn jetzt als "schwere und irreversible Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit".

Freitag, 22. Juni 2012

Hetze gegen Özil - Innenminister Friedrich erbost

Die Internet-Anfeindungen gegen den türkischstämmigen deutschen Nationalspieler Mesut Özil haben Innenminister Friedrich auf den Plan gerufen. Er fordert Solidarität mit all unseren Spielern.
Ein Bericht aus der Neuen Osnabrücker Zeitung 

Mesut Özil
© AFP Mesut Özil wurde Opfer übler Anfeindungen im Internet

In einem Gespräch mit der NOZ kritisierte Friedrich: „Der Fall Özil zeigt nur die Spitze des Eisbergs.“ Die Verwahrlosung der Umgangsformen im Internet sei „erschreckend“. Skeptisch äußerte er sich über die Chance, Twitter-Täter zu stellen. „Es gibt grundsätzlich Möglichkeiten, da die Täter im Netz Spuren hinterlassen. In vielen Fällen ist die Fahndung aber mangels Vorratsdatenspeicherung derzeit nicht Erfolg versprechend“, sagte der Minister.
 
Scharf kritisierte Friedrich auch kroatische Fans, die bei der EM erneut mit rassistischen Gesängen, Affengebrüll und Bananenattacken gegen farbige Spieler auffielen. „Diese Typen muss man isolieren und ihre hirnlosen Aktionen entlarven“, sagte er. „Rassismus darf in unserer Gesellschaft keinen Platz haben. Wir alle müssen uns diesen Auswüchsen mit aller Kraft entgegenstellen“, sagte der Innenminister. Als beschämend bezeichnete Friedrich auch „Sieg, Sieg“-Rufe deutscher Zuschauer ausgerechnet in der im Zweiten Weltkrieg von Deutschen besetzten Ukraine. Auch dass einige wenige sogenannte Fans die verbotene Reichskriegsflagge gezeigt hätten, mache ihn wütend. „Als deutscher Patriot schäme ich mich, wie diese Leute unser Ansehen in Europa und der Welt versuchen zu beschädigen“, betonte der Innenminister. Die überwältigende Mehrheit der Fußballfans habe damit nichts zu tun. Es dürfe nicht sein, dass diese verschwindend kleine Minderheit das Bild bestimme und Deutschlands Ansehen schade.

Mittwoch, 20. Juni 2012

Der rassistische Turnschuh

Vom Style-Objekt zum Sklaven-Schuh: Adidas hat in den USA einen Skandal ausgelöst – wegen eines neuen Modells, das an die Unterdrückung der Schwarzen erinnert. Der Konzern entschuldigte sich und zog eilig Konsequenzen. 
Ein Bericht aus dem Handelsblatt

Adidas-Sneaker, Modell "JS Roundhouse Mid"
Der umstrittene Adidas-Sneaker, Modell "JS Roundhouse Mid"
Außerhalb Amerikas würden sich Menschen wohl vor allem folgende Frage stellen: Warum in aller Welt braucht ein Turnschuh eine Kette, mit der man ihn am Schienbein festbinden muss? Fliegt er sonst weg? Geschichtsbewusste Amerikaner stellen sich dagegen eine viel größere und ernstere Frage: Kann ein Turnschuh rassistisch sein?

Sonntag, 3. Juni 2012

Benotung von ausländischen Schülern fair

Studien legen immer wieder einen Verdacht nahe: Migrantenkindern wird, ähnlich wie Schülern aus Arbeiterfamilien, weniger zugetraut, eine geringere Begabung und weniger Lerneifer unterstellt. Doch das Gegenteil ist wohl der Fall.
Von Roland Preuß, SZ

Migranten im deutschen Schulsystem, das ist ein Reizthema. Jugendliche mit ausländischen Wurzeln brechen häufiger die Schule ab, haben schlechtere Noten, und die Kinder schaffen es seltener auf das Gymnasium - das haben frühere Studien belegt.

Sie legten auch einen Verdacht nahe: Migranten-Kindern würde - ähnlich wie Schülern aus Arbeiterfamilien - weniger zugetraut, etwa eine geringere Begabung oder weniger Lerneifer unterstellt. Eine Untersuchung des renommierten Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) kommt nun zu einem anderen Ergebnis: Migranten-Kinder erhalten zwar seltener eine Empfehlung fürs Gymnasium, dies lasse sich jedoch nicht mit einer Diskriminierung wegen ihrer Herkunft erklären, schreibt die WZB-Bildungsforscherin Cornelia Gresch.

Bei gleicher Leistung und sozialer Herkunft hielten sie Lehrer mindestens genauso oft für gymnasialtauglich wie Kinder aus einheimischen Familien. Anders herum formuliert: Wenn sie nicht für das Gymnasium empfohlen werden, liegt das an schlechteren Leistungen oder aber an ihrer Herkunft aus ärmeren Familien, etwa Arbeiter-Haushalten. Diesen Kindern trauen Pädagogen häufig weniger zu als dem Akademiker-Nachwuchs, doch trifft dies heimische Kinder genauso wie zugewanderte.

Gresch hat für ihre Dissertation Übergangsempfehlungen untersucht sowie Daten aus der Schulstudie Timss von 2007 herangezogen. Darin waren Viertklässler, Eltern und Lehrer befragt worden, zudem mussten die Kinder einheitliche Tests absolvieren. So ließ sich ihre Leistung unabhängig von der Beurteilung durch ihre Lehrer feststellen.

Gresch vermutet, dass manche Lehrkräfte im Fach Deutsch die schwierigere Ausgangslage der Schüler aus Zuwandererfamilien berücksichtigen - und daher eine Empfehlung weniger von Noten abhängig machen. Das rückt Lehrer in ein gutes Licht: sie benachteiligen Migranten-Kinder demnach nicht, sie gleichen deren Nachteile sogar etwas aus.

Insgesamt gesehen empfehlen die Pädagogen Zuwanderer-Kinder dennoch deutlich seltener für das Gymnasium als die übrigen Schüler. Je nachdem, wie lange die Familie schon im Land ist, sind es zwischen 19 und 32 Prozent; bei heimischen Schülern ist es fast jeder zweite.