Freitag, 30. März 2012

Kiezdeutsch rockt, ischwör!

Sprachbewahrer kämpfen verbissen gegen Kiezdeutsch. Der Schulhof-Slang verhunzt unsere Sprache, meinen sie. Alles Quatsch, sagt die Sprachforscherin Heike Wiese. Denn sie meint, Kiezdeutsch sei genauso ein Dialekt wie Bayerisch und Schwäbisch.
Ein Beitrag aus "Der Spiegel"

Kritische Jungs: Jugendliche unterschiedlicher Herkunft sprechen Kiezdeutsch
Kritische Jungs: Jugendliche unterschiedlicher Herkunft sprechen Kiezdeutsch
"Ein eigenartiges nicht Duden-kompatibles Gossen-Stakkato", stand schon in der Zeitung. Und: "Der Wortschatz dieser Straßensprache gleicht einer Notration." Kiezdeutsch gilt oft als falsches, reduziertes Deutsch ohne Grammatik. Dabei ist Kiezdeutsch ein neuer, komplexer Dialekt, der fest im System der deutschen Grammatik verankert ist. Kiezdeutsch weist - wie alle Dialekte - eine Reihe von Besonderheiten auf. Allerdings handelt es sich nicht um sprachliche Fehler, sondern um systematische Neuerungen in Grammatik, Wortschatz und Aussprache.

So wird aus "ich" beispielsweise "isch", was ähnlich im Rheinland vorkommt und im Berliner "nüscht". Wir finden neue Funktionswörter wie "lassma" und "musstu" ("lass uns mal" und "musst du") und Zusammenziehungen wie "ischwör" ("ich schwöre"), mit dem eine Aussage bekräftigt wird - ganz ähnlich, wie umgangssprachlich die Zusammenziehung "glaubich" ("glaube ich") eine Aussage abschwächt. Das Wort "so" wird nicht nur zum Vergleich verwendet, sondern auch zur Betonung ("Ich höre Alpa Gun, weil er so aus Schöneberg kommt."), so entsteht ein neues Funktionswort, das wir übrigens auch außerhalb von Kiezdeutsch finden. Das ist nicht schlampig formuliert, sondern hat System.

Dienstag, 27. März 2012

Türkisch für Anfänger - Eine etwas andere Olympiade

Ein hessischer Schüler rührt in Ankara ein Millionenpublikum mit einem Gedicht – in einer Sprache, die er nicht versteht. Hinter der Türkischolympiade steckt eine muslimische Massenbewegung - die von Fethullah Gülen inspirierte "Hizmet-Bewegung".
Von Martin Spiewak, die Zeit

Nico Weber bei der Türkischolympiade
Nico hat seinen Auftritt am zweiten Tag gegen Mittag, gleich nach einem sehr blonden Mädchen, das Norwegen vertritt. Emotional soll er sein, hat man ihm gesagt. Das mögen die Türken. Deshalb hebt Nico jetzt die rechte Hand ans Herz. Er geht in die Knie und deklamiert die Strophen, die er wieder und wieder geübt hat. Von Blumen ist darin die Rede und von der Sehnsucht nach Heimat, die man nur in der Fremde verspürt. Was er genau vorträgt, versteht Nico freilich nicht. Schließlich kann er bis auf ein paar Brocken gar kein Türkisch. Nur dass sein Gedicht die Herzen rühren kann, weiß der Zwölfjährige. Als er es das letzte Mal vor Publikum vortrug, flossen Tränen.

Ein hessischer Junge, der auf Türkisch Verse vorträgt, obwohl er die Sprache nicht spricht. Ein modernes Megaevent, das jedes Jahr in der Türkei Millionen Zuschauer mit traditionellen Gedichten und Volksliedern begeistert. Ein weltweites muslimisches Bildungsnetzwerk, das offiziell weder einen Namen noch eine Adresse besitzt: Es ist eine eigenartige Geschichte, die Nico Weber, einen Realschüler aus Deutschland, auf eine Bühne in die Türkei verschlagen hat. Ihm selbst kommt sie bis heute vor wie ein orientalisches Märchen.

Diese Geschichte spielt in Gießen und Stuttgart, in Ankara und ein bisschen auch im amerikanischen Pennsylvania. Hier lebt ein Korangelehrter namens Fethullah Gülen, der in seinen Schriften ein islamisches Gutmenschentum predigt – und die größte muslimische Bildungsbewegung der Welt begründet hat. Dazu gehört auch die »Internationale Türkischolympiade«, bei der Nico gegen Jugendliche aus der ganzen Welt antritt. Sie alle kämpfen um den Titel des besten Interpreten türkischen Kulturguts.

Samstag, 10. März 2012

Muslim-Studien: Wissenschaftler sollten gewarnt sein

Es ist immer wieder dasselbe: Kaum erscheint eine Studie über Muslime oder Integration, wird auch schon über deren Deutung geschtritten. Die Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus über den Missbrauch von „Muslim-Studien“ durch die Politik.
Interview: Daniel Bax (TAZ)

Die meisten Studien legen einen starken Fokus auf Radikalisierung, Sicherheit und Integration.  Bild: Reuters

taz: Frau Spielhaus, eine Studie über Muslime hat jüngst für Wirbel gesorgt: Innenminister Hans-Peter Friedrich nutzte sie in der Bild-Zeitung, die sie zunächst exklusiv hatte, um vor radikalen Muslimen zu warnen. Später stellte sich heraus, dass die Zahlen, auf die er sich berief, gar nicht repräsentativ waren. Hat Sie dieser schlampige Umgang mit wissenschaftlichen Daten überrascht? 
 
Riem Spielhaus: Nein. Die Ministerien suchen mit solchen Studien gerne die Aufmerksamkeit der Medien und der Öffentlichkeit, um ihre Politik zuz legitimieren. Deshalb muss man als Wissenschaftler darauf achten, in welchen politischen Kontext man seine Arbeit stellt. 

Die Autoren der Studie, die im Auftrag des Innenministeriums erstellt wurde, sind jetzt entrüstet und verzweifelt darüber, wie sehr die Ergebnisse verzerrt wurden. Waren Sie naiv? 
 
Ja, denn wenn wir zurück blicken, gab es vergleichbare Fälle. So war es schon mit einer Studie über „Muslime in Deutschland“, die der damalige Innenminister Schäuble 2007 präsentierte. Oder im letzten Jahr mit einer Studie über Zwangsheiraten, die Familienministerin Schröder in Auftrag gab. Der wissenschaftliche Beirat sah sich damals genötigt, in einem offenen Brief die verzerrte Interpretation der Ministerin richtig zu stellen.

Sollte man als Wissenschaftler besser keine Aufträge von solchen Ministern annehmen? 
 
Es stellt die Wissenschaftler jedenfalls vor ein Dilemma, denn man möchte man natürlich Einfluss haben, auch auf politische Entscheidungen. Andererseits werden solche Studien von Institutionen beauftragt und finanziert, die bestimmte politische Interessen haben. Da stellt sich die Frage, wie unabhängig eine solche Forschung überhaupt sein kann. 

Was halten Sie denn von der Studie, um die es jetzt geht?

Als großes Manko scheint mir, dass hier - wie in vielen anderen Studien - Muslime und Migranten gleichgesetzt und wie Synonyme behandelt werden. Die Unterschiede werden kaum reflektiert. Diese Unschärfe zeigt sich etwa dann, wenn die befragten Muslime nach ihren Kontakten „zu Deutschen“ und „zu Muslimen“ befragt werden - was ja nahelegt, dass Muslime selbst keine Deutschen sein können.